Funktionen des Stimmgeheimnisses
Das Stimmgeheimnis hat mehrere Aspekte:
♦ Behörden und die Öffentlichkeit dürfen nicht erfahren, wer wie gestimmt hat. Grund: Keine Repressalien von seiten der Behörden; kein Druck von Nachbarn oder Bekannten, wenn man für ein unpopuläres Anliegen eintritt.
Das Stimmgeheimnis gilt damit ebenso gegenüber dem Staat wie gegenüber Privaten (Braun 2006, S. 183).
♦ Auch die Stimmbürger sind verpflichtet, das Stimmgeheimnis zu wahren. Das hindert sie zwar nicht, vor oder nach der Abstimmung über ihr Stimmverhalten zu erzählen, denn das ist dank dem Stimmgeheimnis nicht überprüfbar (Braun 2006, S. 184). Sie dürfen jedoch keinen Beleg erhalten, aus dem ersichtlich ist, wie sie gestimmt haben, sonst würde es möglich, eine Abstimmung mit Geld oder Drohungen zu beeinflussen (Domgörgen 2008, S. 16 ff; Braun 2006, S. 201).
In der Verordnung der Bundeskanzlei werden daher Beweise zum Stimmverhalten ausdrücklich untersagt (Art. 3 Abs. 1 lit. f VEleS). Auch die individuelle Verifizierung soll so umgesetzt werden, dass das 'Risiko des Stimmenkaufs gegenüber der brieflichen Stimmabgabe nicht signifikant vergrössert wird’ (Ziff. 4.2.2 Anhang zur VEleS). (Vgl. Dubuis, Haenni, Koenig 2012, S. 58 ff)
♦ Das Stimmgeheimnis ist nicht nur ein Recht und eine Pflicht des Einzelnen, sondern Voraussetzung für eine freie und faire Abstimmung. Nur in einer geheimen Abstimmung sind die Stimmenden vor Druckversuchen geschützt. Können sie dem Stimmgeheimnis nicht vertrauen, lassen sie sich verunsichern oder vom Stimmen abhalten. Das trifft nicht nur den Einzelnen, sondern den ganzen demokratischen Prozess. (Simons, Jones 2012, S. 76; Domgörgen 2008, S. 17 f; Computer Technologist’s Statement 2008) An der Wahrung des Stimmgeheimnisses besteht daher auch ein Interesse der Allgemeinheit.
Beispiel: Bei einer Abstimmung in XXX würde kaum jemand wagen, gegen den Präsidenten zu stimmen, wenn man nicht zu 100% auf das Stimmgeheimnis vertrauen könnte. Für XXX können Sie beliebige Staaten einsetzen, die sich in den letzten Jahren unrühmlich hervorgetan haben. Die Situation in der Schweiz ist zwar damit nicht vergleichbar, aber wie das Bundesgericht schon 1972 gemahnt hat: "Die politischen Verhältnisse können sich ändern, und im Hinblick darauf ist das Wahlgeheimnis auch dann streng zu hüten, wenn solche Vorkommnisse fern liegen" (BGE 98 Ia 602, S. 613). (Vgl. auch >CIA-Leaks 2017)
Wahrung des Stimmgeheimnisses beim E-Voting
Die abgegebenen Stimmen werden für die Übermittlung verschlüsselt (Bundesrat 2013, S. 75 ff). Dasselbe gilt auch für Abfragen im Rahmen der Verifizierung. Dennoch verbleiben Risiken:
Die Computer der Stimmbürger können mit Trojanern etc. infiziert werden, die einem Angreifer ermöglichen, aus der Ferne das Stimmverhalten des Benützers zu überwachen. Die Behörden gehen daher davon aus, dass Stimmende, die ihren privaten Computer fürs E-Voting verwenden, eine allfällige Verletzung des Stimmgeheimnisses in Kauf nehmen. Diese Auffassung widerspricht jedoch der Funktion des Stimmgeheimnisses als Voraussetzung für eine freie und faire Abstimmung (>Computer der Benützer).
Das System kann Sicherheitslücken aufweisen, und es können absichtlich ‘Hintertüren’ eingebaut werden, durch die man das Stimmverhalten der Abstimmenden beobachten kann. (Derartige Hintertüren möchte z.B. das FBI von allen Anbietern von Verschlüsselungssoftware erhalten.) Auch Hacker und unzuverlässige Insider bedienen sich solcher Taktiken. (Vgl. >Hacker-Methoden, >Insider-Risiken)
Schliesslich stellt sich die Frage, wer beim Online-Voting die Codes für die Verschlüsselung verwaltet. Der Bericht des Bundesrates 2013 (S. 98) erwähnt als Möglichkeit, dass zur Wahrung des Stimmgeheimnisses Treuhänder (Institutionen oder Einzelpersonen) eingesetzt werden, deren Aufgabe darin bestünde, “geheime Informationen vertraulich zu halten, so dass die Stimmen nur bei aktiver Zusammenarbeit aller Treuhänder entschlüsselt werden könnten.” (Dazu Dubuis, Haenni, Koenig 2012, S. 59, 64.) Das bedeutet aber auch: Wenn sich die Treuhänder einigen, lässt sich das Stimmgeheimnis aufheben.