Eine literarische Kritik

Lieber Röbi

Ich habe dein Buch gelesen, ein Jahr danach: herzliche Gratulation!

Ich wiederhole zunächst, was alle schon gesagt haben: es ist spannend und es gibt am Schluss keine wirkliche Auflösung. Was mich nicht stört; doch dazu später.

Beginnen wir am Anfang. Da steht unter dem Titel: Roman. Das heisst eine „epische Prosagrossform, die durch die Gestaltung ausgeprägter Individuen in ihren vielfältigen Beziehungen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt eine umfassende realistische Aussage ermöglicht“ (dtv, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2003). Ist es das? Ein Kammerspiel ist es nicht, es gibt eine Vielzahl von Personen und Situationen. Ausgeprägte Individuen gibt es nur zum Teil, Kurt, ein Stück weit Andermatt und noch etwas weniger Julia. Ähnlich ist es mit der gesellschaftlichen Umwelt. Lebens- und Tätigkeitsbereiche gibt es viele: Telefonverkäuferin, Bank, Sterbehilfe, Kaffee und Kaffeezubereitung, Kunstausstellungen, der Duft der Linden, Gedanken und Meinungen zu Liebe und Treue, gegenseitige Anziehung und Sex; diese Sachen werden vorgeführt, dargestellt, aber eher angetippt und wieder fallengelassen. Und das Ganze spielt sich im Umkreis von Anwaltskanzlei, Gericht und Polizei ab. Dieser Bereich wird etwas genauer ausgeleuchtet – wie es sich für einen Krimi gehört.

Denn das ist es ja auch: ein Krimi. Eine Geschichte, die von Spannung lebt und von einem Plot, der hier aus dem Zusammenhang von Datenschutz, Online-Abstimmungen und Internetspionage besteht. Woher kommt die Spannung? Ein Verbrechen, dessen Sinn und Herkunft man nicht weiss und nicht versteht, bis zum Ende nicht. Die Ungewissheit, es liegen neue Delikte in der Luft und geschehen auch. Die Ungewissheit auch, worum es nun wirklich geht. Die Unsicherheit und Bedrohung von Kurt, Julia und Ralf, man fühlt sich (auch beim Lesen) nirgends mehr sicher. Bis in die Mitte des Buches war für mich Spannung zu gross und immer wieder aus einer neuen Richtung; die Spannung trieb mich weiter, und wenn ich aufhörte zu lesen, hat es mich deprimiert. Die zweite Hälfte war anders, irgendwie zwar noch spannender, aber auch menschlicher, zwischen Kurt und Andermatt gibt es wirkliche Sympathie, das Verhältnis zu Julia hat sich vertieft ... ... (*) 

Es gibt keine Auflösung. Man weiss nicht ... ... (*), man weiss eine ganze Menge anderer Sachen nicht, oder zumindest habe ich es nicht herausgefunden. Damit komme ich wieder zum Anfang. In einem Roman wie „Krieg und Frieden“ gibt es eine Entwicklung. Die Menschen entwickeln sich und die Geschichte entwickelt sich, bis hin zur Weltgeschichte. Der Sinn des klassischen Romans ist es, dem Leben einen Sinn zu geben, die vielfältigen Vor-, Un- und Zufälle, die sich im Lauf eines Lebens ereignen, so in Zusammenhang zu bringen, dass das Leben eine Geschichte ergibt. Wir machen das ständig mit unserm eigenen Leben, auch un- oder halbbewusst; etwas anderes ist schwer zu ertragen. In Julia77 gibt es auch Geschichten, aber stückweise, es sind Lebensfetzen, die keinem übergeordneten Sinn folgen, Gott ist weit weg, man weiss nicht, warum man geboren wird, lebt und stirbt – von daher kam wohl, dass ich mich zeitweise deprimiert fühlte. Und darum gibt es keine Auflösung. Das ist konsequent. Die Welt, wie wir sie täglich in der Zeitung lesen, besteht aus Stückwerk und Zufall, Mächten und Mühlen, warum sollte es hier anders sein?

Für Kurt gibt es eine kleine Auflösung, durch Freundschaft, Liebe und Tod – Ingredienzien des klassischen Romans.

Mit liebem Gruss  
Paul

(*) An diesen Stellen habe ich Passagen weggelassen, damit diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben, nicht zu vieles schon im Voraus erfahren. 

Hier noch meine Antwort an Paul:

Lieber Paul

Vielen Dank für deine ausführliche Stellungnahme! ... ... 

Was du schreibst, stimmt wohl alles. Die meisten Leute lesen das Ding ja tatsächlich als Krimi und sind dann enttäuscht, wenn am Schluss keine Auflösung à la Krimi geliefert wird. Ich frage mich oft, ob ich nicht zu viel Spannung hineingebracht habe. So hetzt der Leser vom Anfang zum Ende, ohne das Gemüse links und rechts vom Weg zu beachten. Dabei war mir dieses Beigemüse ebenso wichtig wie die ‘eigentliche’ Story. Deshalb habe ich das Buch dann nicht als Krimi, sondern als Roman bezeichnet.

Deiner Anforderung an einen ‘richtigen’ Roman genügt das natürlich nicht. Es stimmt ja, dass ich noch ein bisschen von diesem und jenem, das mich auch interessiert, mit hineingepackt habe. Man sagt, die meisten Autoren würden bei ihrem ersten Buch zu viel aufs Mal wollen, statt sich auf etwas zu konzentrieren. Wird wohl so sein. Immerhin bilde ich mir ein, auf diese Weise etwas Atmosphäre hineingebracht zu haben, welche die Krimi-Geschichte sonst nicht hätte. Das alles “so in Zusammenhang zu bringen, dass das Leben eine Geschichte ergibt”, habe ich aber sicher nicht geschafft. Nicht einmal versucht habe ich das; den Tolstoi darfst du mir als Massstab nicht vorhalten! Wenn ich hingegen vergleiche, was in den letzten Jahren hier so alles unter der Rubrik ‘Roman’ publiziert wurde, komme ich mir gar nicht mal so schlecht vor dabei.

Tja, so ist das. Nochmals vielen Dank. Und herzlichen Gruss ... ... 
Robert