Vehemente Kritik einer Leserin

Lieber Robert

Nun hab ich ihn endlich auch gelesen, deinen Krimi! Und du bist schuld, dass ich die letzten drei Tage tagsüber nicht recht funktionstüchtig war, denn ich habe eigentlich (noch) gar keine Zeit für Privatlektüre. Deine Julia77 war aber dermassen spannend geschrieben, dass ich das Buch einfach nicht weglegen konnte… 

Zuerst ein grosses Kompliment zu deinem Stil. Ich finde, du schreibst äusserst lebendig, ansprechend, gescheit, witzig, locker, ungekünstelt, eloquent und stilsicher. Ich bin richtig angetan und positiv überrascht ob dem unerwartet hohen schriftstellerischen Niveau. Chapeau!

Nun zum grossen Frust: Ich konnte gestern fast gar nicht mehr einschlafen, weil ich mich dermassen geärgert habe über den offenen Schluss. Du kannst doch die Julia nicht in einem (gelungenen) Twist abtreten lassen, die Morde nicht aufklären und das Hauptthema so vage versanden lassen... Das darf man einfach nicht! Der Leser hat ein Recht auf Erfüllung seiner Lesererwartung, und  diese lautet: Aufklärung, Gerechtigkeit, Klarheit, Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit - oh, nein, das geht zu weit, sorry… 

Aber du unterminierst alle Erwartungen an einen „anständigen“ Schluss, also ob du keine Lust mehr gehabt hättest auf deinen Protagonisten oder die Story - vielleicht war auch einfach der 12-Monatszyklus mit dem Schneefall im Januar aufgebraucht und du musstest die Sache wohl oder übel ohne schlüssigen Schluss beenden. Und dann, auf der letzten Seite quasi, noch Julias verschollener Brief, der wohl alles geklärt hätte... Verschollen !!! Das darf doch nicht wahr sein !!! Also entweder du weisst ganz genau, was eigentlich Sache war mit diesem Geheimbund und Oskar und Eberhard und diesem einem TV-Thriller entsprungenen Nemo, und du weisst auch, wozu du diese Mariana und die ebenfalls spurlos verschwundene, mir so unsympathische Galeristin eingeführt hast, auf deren Wiedererscheinen man vergeblich wartete, und warum die Polizistin Sylvia (wenig plausibel!) Sex wollte und und und… Also entweder du weisst das alles ganz genau, weil du dir einen anständigen Plot ausgedacht hast, und setzt dich SOFORT hin und schreibst das Sequel zu Julia77, denn das bist du uns allen schuldig! Oder aber du hast selber keinen Plan, was bedeutet, dass du nochmals über die Bücher bzw. das Buch musst, ein paar Nebenhandlungsstränge rausstreichen, Ungereimtheiten eliminieren, den Plot verdichten - und diesen v.a. AUFLÖSEN. (Ich denke, das würde sich lohnen, denn schreiben kannst du.)
Ich lese dich unglaublich gerne, das Zürcher Lokalkolorit heimelt den Altstadtbewohner natürlich an, die kleinen Beobachtungen und Exkurse sind z.T. Perlen (auch stilistisch) und ich würde die Fortsetzung sofort verschlingen. Wenn der Roman auf dem Markt bestehen soll - und Potential wäre vorhanden - dann musst du ihn wohl oder übel umschreiben, find ich. (Das Thema ist gut, nur müsste es fokussierter daherkommen, v.a. wenn du einen Krimi draus machen willst.) Was meinst du?

Aber jetzt muss ich losdüsen - zum Glück scheint die Sonne, sodass ich das Velo nehmen kann, sonst wär ich jetzt zu spät dran. 

Mit herzlichem Gruss
B. Ingold

 

B. Ingold hat mir die Publikation dieses Textes gestattet. Leserinnen oder Leser, die ihren Frust loswerden möchten, müssen also nicht befürchten, dass ich ihre Mitteilungen ohne Erlaubnis ins Netz stelle.